Produktivitätssteigerungspotenzial nicht erkannt
Wie unterstützen Unternehmen das Wellbeing ihrer Mitarbeitenden, d. h. die Bedürfnisse nach physischer Gesundheit, sozialer Verbundenheit, emotionaler Ausgeglichenheit und finanzieller Absicherung? Diesen Fragen ging Willis Towers Watson im März diesen Jahres in einer weltweiten Studie, dem Wellbeing Diagnostic Survey, nach.
Die Studienergebnisse in Deutschland zeigen, dass das Wellbeing aufgrund der Pandemie zu einer Top-Priorität geworden ist, die aber nur bedingt bis in die Chefetage reicht. Insbesondere erkennen Unternehmen die Risiken von psychischen Erkrankungen und versuchen, Angebote für eine gute Work-Life-Balance zu schaffen. Herausforderungen existieren dennoch, zum Beispiel in der Artikulierung einer klaren Wellbeing-Strategie oder in der Messung der Zielerreichung. An der Umfrage nahmen in Europa 206 Unternehmen mit insgesamt 1,3 Mio Mitarbeitenden teil, darunter 56 Unternehmen mit Standorten in Deutschland, die insgesamt 468.000 Mitarbeitende beschäftigen.
Die meisten Arbeitgeber berichten, das Stress, mentale Gesundheit und die Pflege von Angehörigen das größte Problem für ihre Belegschaft darstellt. Eher kurzsichtig reagieren viele Arbeitgeber auf das Thema „Financial Wellbeing“, d.h. proaktiv dafür zu sorgen, dass Mitarbeiter (dank Weiterbildung oder Unterstützung im Management ihrer privaten Finanzen) nicht durch Geldsorgen belastet werden und den Kopf frei haben für engagierte, produktive Arbeit. Die Bedeutung von Financial Wellbeing wächst zwar, es wird aber insgesamt immer noch zu wenig beachtet und nicht ausreichend mit Ressourcen ausgestattet. Das überrascht, insbesondere weil kurz- oder langfristige finanzielle Sorgen oft auch zu psychischer Belastung führen.
Grundsätzlich blicken Unternehmen im Hinblick auf das Mitarbeiter-Wellbeing zuversichtlich in die Zukunft, wahrscheinlich weil Programme wiederholt kommuniziert wurden und einige Unternehmen verschiedenste neue Programme einführen werden oder eingeführt haben, um die vier Dimensionen des Wellbeing zu adressieren. Fast drei Viertel (71 Prozent) der befragten Unternehmen gaben an, dass das Wohlbefinden der Mitarbeitenden im Fokus der Unternehmensführung steht. Jedoch haben genauso viele keine klare Wellbeing Strategie artikuliert, sondern bieten nur ein Sammelsurium an einzelnen Programmen an. Im Europa-Vergleich hinken die deutschen Unternehmen damit hinterher: Hier haben insgesamt 50 Prozent der Unternehmen, also 21 Prozent mehr eine Wellbeing-Strategie artikuliert. So entsteht der Eindruck, dass Chefs bei diesem Thema Personalabteilungen und Führungskräfte allein lassen. Hier bleibt den Personalabteilungen dann nur die Möglichkeit, in Eigenregie mehr Programme anzubieten – obwohl 51 Prozent der Unternehmen angaben, dass steigende Kosten und fehlende Ressourcen Hindernisse für die Implementierung solcher Programme darstellen.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass punktuelle Einzellösungen weniger wirken als ein ganzheitlicher und gut kommunizierter Ansatz. Aber immerhin planen 61 Prozent der deutschen Unternehmen, ihr Wellbeing-Programm in den nächsten drei Jahren so auszubauen und zu differenzieren, dass es die Mitarbeiterbindung und -gewinnung stärker unterstützt.
Die meiste Aufmerksamkeit bekommen Programme im Bereich des emotionalen Wohlbefindens. Zu den am meisten umgesetzten Aktionen gehören Ressourcen für den Umgang mit Depression und Angstzuständen sowie der Ausbau von Employee-Assistance-Programmen (EAP) und Resilienz-Trainings. Hier wollen 95 Prozent der Firmen in den nächsten drei Jahren eine wichtige bis sehr wichtige Priorität setzen.
Weit abgeschlagen ist dagegen das finanzielle Wohlbefinden: das nur 52 Prozent zu verbessern planen. In diesem Bereich steht die betriebliche Altersversorgung (bAV) an erster Stelle. Immerhin wollen neun Prozent der Unternehmen mehr Webinare anbieten, die das Finanzwissen der Mitarbeiter verbessern.
Es überrascht nicht, dass ein Großteil der Unternehmen (mindestens 76 Prozent) in den nächsten drei Jahren den Fokus auf die Employee Experience bzw. die Kommunikation von Benefits und die Einführung oder Überarbeitung von Wellbeing-Programmen setzen werden.
Allerdings planen bislang nur 65 Prozent, Daten und Kennzahlen zur Messung der Effektivität der Wellbeing-Programme zu nutzen. Ohne genaue Datenbasis (z.B. eine Employee und Employer Wellbeing Diagnostic Scorecard) ist es jedoch schwer, die Ausgangssituation bzw. die bestehende Problematik zu kennen und zu evaluieren, in wieweit Ziele erreicht wurden.
Vor Beginn der Pandemie äußerten viele in Firmen und Führungskräften noch große Skepsis in Bezug auf Home-Office und flexible Arbeitszeiten. Die Krise hat nun die meisten Skeptiker überzeugt. Vieles deutet darauf hin, dass insbesondere jüngere Arbeitnehmer diese Flexibilität und eine ausgewogene Work-Life-Balance grundsätzlich erwarten. Vier Fünftel (81 Prozent) der befragten Unternehmen geben an flexible Arbeitszeiten umgesetzt zu haben, damit Arbeitnehmer persönlichen Verpflichtungen nachgehen können. 40 Prozent haben über gesetzliche Verpflichtungen hinaus bezahlte Elternzeit umgesetzt. Generell steht Kinderbetreuung hoch im Kurs: Gut ein Drittel (35 Prozent) bieten virtuelle Kinderbetreuung, Kinderbetreuung am Arbeitsplatz oder Zuschüsse an.
Für die Zukunft ist eine stärkere strategische Verknüpfung von Employee Experience, Wellbeing und Unternehmenskultur zu erwarten. Ein Fünftel der Unternehmen (22 Prozent) plant, genauer zu untersuchen, ob ihr Arbeitsumfeld und ihre Wellbeing-Programme auf die Unternehmenskultur ausgerichtet sind und damit in Einklang stehen. Manche Unternehmen holen aktuell ihre psychische Gefährdungsbeurteilung nach oder prüfen, was man nach der letzten Beurteilung umgesetzt wurde.
Erst ein Drittel (35 Prozent) der Unternehmen beziehen ihre Führungskräfte aktiv in die Vermittlung und Umsetzung von Wellbeing-Strategien ein. Weitere 22 Prozent planen, ab 2022 oder 2023 Mitarbeitende als Fürsprecher, Botschafter oder Verbündete für einen gesunden Arbeitsplatz auszubilden. Die Bedeutung dieser Maßnahme ist nicht zu unterschätzen: Wellbeing-Initiativen werden sich ohne die Einbeziehung der Führungskräfte kaum erfolgreich implementieren lassen.
Die Studienergebnisse geben auch Aufschluss über die Effektivität der Wellbeing-Programme, deren Umsetzung und das Engagement der Mitarbeiter in den Unternehmen, zusammengefasst in einem (Wellbeing) Overall Effectiveness (OE) Score. Unternehmen mit den höchsten Ergebnissen haben die effektivsten Wellbeing-Programme. Dabei zeigt sich, dass 44 Prozent der Unternehmen, deren Wellbeing-Programme eine mittlere bis hohe Effektivität aufweisen, auch durch eine hohe Mitarbeiter Produktivität gekennzeichnet sind, verglichen mit 27 Prozent der Firmen, deren Wellbeing-Programme wenig effektiv sind.
Firmen mit einer mittleren und hohen Wellbeing-Effektivität in Deutschland haben zwar eine höhere Produktivität als Firmen mit niedriger Wellbeing-Effektivität, im Vergleich zu Firmen in anderen europäischen Ländern mit mittleren und hoher Wellbeing-Effektivität, ist die Produktivität aber immer noch ca. 15 Prozent niedriger. Dies könnte an den „Fehlern der Vergangenheit“ liegen: Führungskräfte wurden weniger umfangreich und intensiv in Wellbeing-Initiativen einbebunden, vorhandene Initiativen zu wenig kommuniziert und Wellbeing Best Practices seltener als in anderen Westeuropäischen Ländern implementiert.
Das Mitarbeiter-Wellbeing erfährt in Deutschland inzwischen zwar eine größere Aufmerksamkeit in den Chefetagen und scheint zu einer Rennaissance des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) zu führen. Es wird jedoch weiterhin (abgesehen von der physischen Arbeitsplatzsicherheit und ggf. dem physischen Wellbeing) noch nicht ganzheitlich betrachtet, ohne übergreifende Strategie implementiert und mit zu knappen Ressourcen ausgestattet. In der Folge werden Personalabteilungen hier zu oft allein gelassen und können sich „nur“ bemühen, bestehende Programme zu erweitern oder „ins rechte Licht zu rücken“. Darüber hinaus werden die Erfolge oder Nichterfolge der Wellbeing-Programme nur selten und nicht systematisch gemessen.
Insbesondere das finanzielle und soziale Wohlbefinden werden noch zu wenig beachtet. Dies kann daran liegen, dass das Konzept des finanziellen Wellbeings in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt, oder dass bislang viele Menschen – selbst in akuten Problemlagen – nicht gern über Geld reden.
Für Unternehmen, die frühzeitig eine ganzheitliche Wellbeing-Strategie entwickeln und implementieren, besteht das Potenzial, sich als Vorreiter im Wettbewerb um talentierte Mitarbeiter zu positionieren. In der Praxis dürfte erhebliches Erfolgspotenzial dadurch zu heben sein, dass anstelle vieler kleiner Programme eine klar artikulierte ganzheitliche Wellbeing Strategie verfolgt und von den Führungskräften jeden Tag gelebt wird.