Im US-Wahlkampf 2020 wurde das Krankenversicherungssystem immer wieder thematisiert, Demokraten und Republikaner verfolgten gegensätzliche Ansätze.
Der „Affordable Care Act“, oft als „Obamacare“ bezeichnet, ist für Menschen gedacht, die nicht über einen Arbeitgeber versichert sind, aber auch nicht arm oder alt genug für Medicaid, die Versicherung für die Ärmsten und die Senioren in den USA, sind.
US-Präsident Joe Biden hat nun bereits in den ersten zehn Tagen seiner Amtszeit ein Dutzend Verordnungen, Memoranden oder präsidentielle Ankündigungen, die sich mit dem US-Krankenversicherungssystem befassen, erlassen. Insbesondere unterzeichnete er Ende Januar 2021 zwei Exekutivverordnungen, welche die durch Trump herbeigeführte Schwächung der durch Obama vor zehn Jahren eingeführten Gesundheitsreform wieder aufhoben. So wurden beispielsweise die bereits abgelaufenen Einschreibezeiträume in den öffentlichen Versicherungsschutz in einigen Bundesstaaten verlängert, um es insbesondere Menschen mit chronischen oder schweren Krankheiten zu ermöglichen, wieder einen Krankenversicherungsschutz zu erlangen. Bidens erste Maßnahmen verbesserten auch den Zugang zu Abtreibungen, indem sie die Beschränkung aufhoben, dass öffentliche Gelder nicht für Kliniken verwendet werden dürfen, die über Schwangerschaftsabbrüche beraten.
„Obamacare“ führte in der Regierungszeit Barack Obamas dazu, dass ca. 20 Mio. unversicherte Amerikaner Zugang zu einer Krankenversicherung erhielten. Die Anzahl der Personen ohne Krankenversicherung fiel 2016 auf ein historisches Tief. Schätzungen gingen hingegen 2019 davon aus, dass ca. 32,8 Mio. Amerikaner oder 12,1 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren über keine Krankenversicherung verfügten, darunter 5,1 Prozent der Kinder. Unter der Trump-Regierung stieg die Anzahl der Unversicherten um jährlich ca. zehn Prozent.
Millionen Amerikaner sind in der Corona-Pandemie zumindest teilweise arbeitslos geworden. In aller Regel wird in den USA eine Krankenversicherung vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt und endet mit dem Arbeitsverhältnis für den Arbeitnehmer und seine Familienangehörigen. Während der Pandemie haben zwar viele Arbeitgeber ausnahmsweise den Krankenversicherungsschutz (auch im Bereich der sog. „self-insured medical plans“) übergangsweise auch an ihre durch die Pandemie arbeitslos gewordenen Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Inwiefern sich das tatsächlich auf die Zahl der Unversicherten ausgewirkt hat, kann derzeit aber noch nicht mit Daten unterlegt werden. Aktuell dürften ca. zwei bis drei Millionen Amerikaner zusätzlich ohne Kranken-Versicherungsschutz leben. Die schwarze und spanischstämmige Bevölkerung ist hiervon überproportional betroffen.
In der Corona-Pandemie wurden die Schwächen des amerikanischen Gesundheitssystems besonders offensichtlich, vor allem
Ca. 63 Prozent der amerikanischen Bevölkerung verfügt über eine private Krankenversicherung. Ein Großteil hiervon wird vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt. Insofern sind große Arbeitgeber wichtige Einkäufer von Krankenversicherungsschutz und somit ein wichtiger Einflussfaktor in der derzeitigen politischen Debatte über die Zukunft des US-Krankenversicherungssystems.
Arbeitgeber wünschen sich mehrheitlich, dass der Staat stärker in das Gesundheitssystem eingreift, wie aktuelle Umfragen gezeigt haben. Die überwiegende Mehrheit (87 Prozent) der Top-Executives von Arbeitgebern über 5.000 Mitarbeitern ist der Meinung, dass die Kosten der Krankenversicherung für die Arbeitnehmer in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht mehr langfristig aufgebracht werden können. Sie erwarten, dass der Markt allein keine Regulierung bringen wird und halten es für notwendig, dass die Regierung einschreitet.
Im Jahr 2020 hat das Prämienvolumen eines Arbeitgebers für eine Familie durchschnittlich 21.342 US-Dollar erreicht, eine 55-prozentige Steigerung seit 2010, während gleichzeitig die durchschnittliche Selbstbeteiligung des Mitarbeiters von 917 auf 1.644 US-Dollar stieg. (Zum Vergleich: die Inflation in diesem Zeitraum betrug 19 Prozent.) Derzeit sind die Kosten für durch arbeitgeberfinanzierte Krankenversicherungen übernommene Behandlungen deutlich höher als die für durch öffentliche Krankenversicherungen übernommene Behandlungen. So erheben Krankenhäuser durchschnittlich das 2,5fache für von Arbeitgebern finanzierten Krankenleistungen bzw. privaten Kranken-Versicherungen als für die gleiche Leistung über die staatliche Lösung. Weiterhin zahlen Amerikaner nach einer aktuellen US-Regierungsstudie ca. zwei bis vier Mal so viel für die gleichen Medikamente wie beispielsweise Kanadier, Franzosen oder Australier.
Die Konsolidierung der Anbieter im medizinischen Bereich wird von den Arbeitgebern sehr kritisch gesehen und hier eine Stärkung der Kartellbehörden gefordert, ebenso wird mehr Transparenz über die Preisstrukturen eingefordert. Mehr als ein Drittel der Arbeitgeber stimmten mit Plänen der Regierung überein, in Regionen ohne oder mit sehr limitiertem Wettbewerb unter Krankenhäusern ein Limit für die Behandlung einzuführen.
Die stark ansteigenden Krankenversicherungskosten werden nach dieser Studie der unabhängigen Kaiser Family Foundation von den Arbeitgebern als Bedrohung des Unternehmenswachstums und der wirtschaftlichen Entwicklung der Arbeitnehmer gesehen. Gleichzeitig zeigen Studien, dass ein nicht ausreichender Zugang zu Krankenversicherungssystemen, zu körperlicher und seelischer Gesundheit sowie nicht angemessene Kosten für das Krankenversicherungssystem als größte Barriere für eine positive wirtschaftliche Entwicklung und das eigene Wohlbefinden gesehen werden.
Ende April hat Biden im Kongress eine umfangreiche Gesundheitsreform gefordert. Demnach soll z.B.
Allerdings finden sich nicht alle dieser Überlegungen in „Biden’s American Families Plan“ wieder. So fehlt dort z.B. die Herabsetzung des Alters für den Zugang zu Medicare von 65 auf 60 Jahren. Dies würde nach einer aktuellen Studie der Kaiser Family Foundation die Gesamtkosten stark reduzieren. Aktuell fallen die Kosten mit dem Übergang vom privaten, in der Regel arbeitgeberfinanzierten System in Medicare im Alter von 65 Jahren stark trotz ansteigender Nutzung. Dies würde zu einer erheblichen Reduzierung (15 Prozent) der Arbeitgeberkosten für die Altersklasse 60-64 führen. Selbst wenn Medicare – wie von einigen Demokraten gefordert – um Zahn-, Augen und Ohrenbehandlung erweitert würde, würden für diese Altersgruppe die Kosten durch den früheren Einstieg in Medicare immer noch fallen, wenn auch nicht so erheblich.
Auch findet sich die zentrale Verhandlung der Preise für Medikamente – wie z.B. in Frankreich teilweise praktiziert – in „Biden’s American Families Plan“ nicht wieder. Hier wird möglicherweise der zu erwartende Widerstand der Pharmaindustrie und der Republikaner in einem nahezu paritätisch besetzten Senat als zu hoch eingestuft.
Zwischenzeitlich ist auch der dritte Versuch der Republikaner, gerichtlich gegen ‚Obamacare‘ vorzugehen, gescheitert. Am 17. Juni 2021 wies der oberste Gerichtshof eine entsprechende Klage ab, so dass die derzeit 31 Millionen Menschen, die über den „Affordable Care Act“ versichert sind, aufatmen können.
Zur Zeit ist schwer absehbar, welche Reformpläne konkret umgesetzt werden. Es ist aber davon auszugehen, dass sich innerhalb der nächsten 24 Monate für Arbeitgeber viele neue Lösungen und Krankenversicherungspläne ergeben. Nicht nur von Regierungsseite wird an neuen Konzepten gearbeitet, welche die Digitalisierung sowie die Vernetzung der Erstversorgung mit präventiven Maßnahmen und einer höheren Qualität im Krankensystem noch weiter vorantreiben. Der drohende weitere Kostenanstieg sowie der politische Druck – schließlich war die Krankenversicherung ein zentrales Wahlkampfthema – machen Veränderungen unabdingbar.
Für Unternehmen empfiehlt es sich daher, die aktuelle Entwicklung im Auge zu behalten, um auf eventuelle Veränderungen vorbereitet zu sein. Zusätzlich kann ein aktuelles Benefit-Audit der in den USA vom Unternehmen bereit gestellten Krankenversicherung das Unternehmen in die Lage versetzen, bei den zu erwartenden Gesetzesänderungen schnell und angemessen reagieren zu können.