Status und Ausblick
Noch vor fünf Jahren wurden ESG-Faktoren in der bAV explizit nicht als Priorität eingestuft1 – heute gilt: „Grün macht den Unterschied“2. Was auf den ersten Blick wie ein erstaunlicher Gesinnungswandel wirkt, ist Teil eines Megatrends. Die Integration von ESG-Faktoren, also umweltbezogenen und sozialen Faktoren sowie der Governance, bei der Kapitalanlage deutscher Versicherer und Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EbAV) gewinnt massiv an Bedeutung.
Dies liegt zum einen an einem immer schneller wachsenden Produkt- und Lösungsangebot. Am europäischen Primärmarkt verging 2021 praktisch kein Handelstag, an dem Anlegern nicht eine neue grüne, soziale oder nachhaltigkeitsgebundene Anleihe offeriert wurde. Emittenten bedienen den Markt mit solchen zweckgebundenen Bonds, um damit Klima- bzw. Umweltschutzprojekte, soziale Maßnahmen oder Aspekte nachhaltigen Wirtschaftens zu finanzieren.
Ein Angebotsschub ist auch im Bereich der Fondsprodukte festzustellen. Innerhalb der Grenzen der Europäischen Union sind aktuell fast 20.000 Fonds ansässig. Rund ein Viertel von ihnen bewerben entweder ökologische oder soziale Merkmale (Finanzprodukte, die gemäß Artikel 8 der im März d.J. in Kraft getretenen Offenlegungsverordnung eine Nachhaltigkeitsstrategie verfolgen und entsprechende Transparenzpflichten erfüllen, „Artikel-8-Produkt“, 21 Prozent) oder sind bestrebt, mit ihrem Investitionsverhalten eine positive Auswirkung auf Umwelt und Gesellschaft zu erzielen („Artikel-9-Produkt“, drei Prozent).
Im Gleichschritt entwickeln sich Ausbreitung und Volumina. Das Anlagevermögen entsprechender Strategien beläuft sich zwischenzeitlich auf fast 3,3 Billionen Euro, rund 35 Prozent des gesamten Fondsvolumens. Allein im Jahr 2020 stiegen Assets under Management – beflügelt auch und vor allem durch die Umwidmung ehemals konventioneller Fonds - um über 50 Prozent. Einer aktuellen Umfrage von Natixis unter 3.600 professionellen Investoren zufolge verfolgen ca. 75 Prozent eine ESG-Strategie. 2018 betrug ihr Anteil ca. 65 Prozent. Das stetige Wachstum hat Experten widerlegt, die eine Kehrtwende unter den Corona-bedingt volatilen Kapitalmarktbedingungen des letzten Jahres prognostiziert hatten.
Führende ESG-Märkte in Europa sind die skandinavischen Länder (hier wurden fast 60 Prozent aller Produkte zwischenzeitlich als „Artikel 8-konform“ klassifiziert), gefolgt von Belgien und den Niederlanden (47 Prozent) und Frankreich (41 Prozent). Für Deutschland lässt sich aktuell ein Anteil von ca. 16 Prozent feststellen. Der gesellschaftliche Rückenwind für nachhaltige Investitionen ist stark und erhält nachhaltige Unterstützung durch Wissenschaft und Politik.
Dabei haben sich Privatanleger immer schon die Frage gefallen lassen müssen, ob dem Klima mit ihrem ökologischen Investment zugunsten einer „grünen“ Anleihe oder Aktie tatsächlich gedient ist. Bei den sogenannten „green bonds“ wie sie seit dem Herbst letzten Jahres auch Deutschland emittiert, handelt es sich dem Grunde nach um konventionelle Staatsschuldtitel. Der einzige Unterschied: durch sie werden nominell Staatsausgaben finanziert, die sich unter dem Etikett „grün“ subsummieren lassen.
Verändert der Kauf das Investitionsverhalten von Bund oder Ländern? Natürlich nicht – er ermöglicht die Aufnahme von Schulden, eine Zuordnung eines Wertpapiers zu einer klimafreundlichen Haushaltsposition ist reines Wunschdenken. Der gewünschte Effekt bleibt auch bei Aktien zunächst aus. Weder bewirkt der individuelle Tausch der Aktie eines „schmutzigen“ Energieversorgers gegen die eines Herstellers von Windkraftanlagen einen Emissionsrückgang, noch befördert die Umverteilung existierender Finanztitel zwischen Anlegern in einem global integrierten Finanzmarkt einen Preiseffekt.
Gelten diese Grundsätze für institutionelle Investoren nicht? Was machen sie anders? Es sind vier Beweggründe, die dafür gesorgt haben, dass ESG-Praktiken unter Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung und Versicherern in Europa so einen massiven Zulauf zu verzeichnen haben. Ihr Erscheinen erfolgte zeitlich versetzt, nicht in allen Fällen sind sie inhaltlich miteinander verbunden.
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Ihren Ursprung hatten entsprechende Praktiken in den Werten und ethischen Überzeugungen einzelner Investoren wie dem norwegischen Staatsfonds. Spätestens seit 2018 wählt der rund eine Billion Euro große Fonds (Stand: Dezember 2020) seine Investments nur noch unter Berücksichtigung von ESG-Kriterien aus. Ein Schwerpunkt Norwegens liegt auf dem Schutz der Ozeane und der Bekämpfung der Verschmutzung der Weltmeere durch Plastik.
Konsequent zieht sich der Fonds aus Firmen zurück, die er in diesem Sektor als nicht nachhaltig einstuft. Hiervon betroffen sind Adressen aus der Schifffahrt, dem Fischfang und der Aquakultur, aber auch aus dem Einzelhandel und der Landwirtschaft.
Nicht nur existieren inzwischen Anlageprodukte, die darauf ausgerichtet sind, das Anlageverhalten dieses Fonds zu imitieren, auch große Unternehmungen in Deutschland veranlagen Pensionsvermögen getreu dem Vorbild des Fonds.
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Zwei weitere Treiber sind das anlegerspezifische Bestreben, Risiken zu managen sowie in diesem Sinne ermunternde Vorgaben der Regulierung. In den letzten Jahren hat sich zuerst unter den Versicherern, dann auch unter anderen institutionellen Investoren die Überzeugung verfestigt, dass der Klimawandel und der durch ihn erzwungene Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft transitorische, physische und Reputationsrisiken impliziert. Nicht nur erzwingt die nationale Finanzaufsicht eine Befassung mit diesen Risiken, ESG-Strategien bieten einen echten Mehrwert bei deren Mitigation und bereichern damit das jeweilige Investment.
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Ein weiterer maßgeblicher Motivator sind die Erwartungen unterschiedlichster Interessengruppen, die insbesondere im Fall Ökologie ausnahmsweise in die gleiche Richtung zu weisen scheinen. Die zur Erreichung globaler Klimaziele benötigten Investitionsvolumina belaufen sich Schätzungen zufolge auf ca. fünf Billionen Euro p.a., ca. sechs Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Im Juni d.J. wurde eine „schwarze Liste“ mit mehr als 1.300 Konzernen veröffentlicht, die CDP-Angaben ganz oder teilweise verweigern – 48 davon aus Deutschland, darunter auch DAX- und MDAX-Konzerne. Asset-Managern hilft die Veröffentlichung dabei, Investitionsentscheidungen zu treffen. Sie forcieren Transparenz unter den Verweigerern von denen angenommen wird, dass sie jährlich mehr Kohlendioxid-Äquivalent ausstoßen als die gesamte EU.
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Schlussendlich ebenfalls Treiber der um sich greifenden ESG-Praktiken auch von EbAV sind Performance und sich neu bietende Investmentopportunitäten. „Grünen“ Investments wurde lange entgegen gehalten, dass mit ihnen fast zwangsläufig eine verminderte Rendite auf das eingesetzte Kapital verbunden sei, da die Beeinflussung einer Unternehmensleitung in Richtung ökologisch verantwortlicher oder sozialerer Geschäftspolitik zu Lasten der Firmenerträge ginge.
Tatsächlich ist davon auszugehen, dass Portfolien, die ESG-Kriterien und deren effektive Steuerung integrieren, risikobereinigt einen moderaten, langfristigen Renditevorteil bieten. UBS Asset Management gab jüngst die Ergebnisse einer von der Economist Intelligence Unit durchgeführten weltweiten Studie mit dem Titel „Resetting the agenda – How ESG is shaping our future“ heraus. Fast drei Viertel der 450 befragten institutionellen Investoren gaben an, dass ihre ESG-konformen Investments seit 2018 eine bessere Performance erreicht hätten als vergleichbare traditionelle Investments.
Es bleibt die Frage, wie genau die ESG-Praktiken aussehen, mit denen die Versicherung / die EbAV dem eingangs geschilderten Dilemma des Privatinvestors entkommt, der eine „braune“ Aktie gegen eine „grüne“ tauscht und dessen Beitrag zu Klimarettung überschaubar bleiben wird. Es muss sich um Maßnahmen handeln, die deutlich über den Ausschluss bestimmter Titel und Sektoren (Kohle, Controversial Weapons o.Ä.) oder das Investment in noch einen Artikel-8-Fonds hinausgeht.
Kapitalanleger, die ein Ziel wirkungsvoll verfolgen wollen, können dies, indem sie eine Rolle als aktiver Anleger einnehmen und ihre Investments auf Unternehmungen konzentrieren, bei denen sie Einfluss nehmen über
Gerade kleinere Einrichtungen werden selten die Gelegenheit haben, sich persönlich in die Entscheidungsprozesse auf Unternehmensebene einzubringen. Sie werden sich in der Regel damit behelfen müssen, das gewünschte Abstimmungsverhalten an eine Proxy-Voting-Agentur abzutreten.
Erweiterte Governance-Kapazitäten und vor allem Volumina ermöglichen die Veröffentlichung der eigenen Abstimmungspolitik oder den direkten Dialog mit finanzierten Unternehmen, um Verbesserungen anzuregen.
Der Ausschluss einzelner Titel oder das Destinvestment ist in diesem Kontext nur noch die allerletzte Wahl.
Aktuell betragen die Deckungsmittel in der bAV über alle fünf Durchführungswege hinweg rund 631 Mrd. Euro (Stand: 2018, Quelle: Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung e.V.). Das entspricht gut 60 Prozent der im norwegischen Staatsfonds angelegten Mittel, und in etwa zehn Prozent der unter der Schirmherrschaft der UN entstandenen Net-Zero Asset Owner Alliance aus 42 institutionellen Investoren (darunter namhafte Versicherer, Pensionseinrichtungen und Unternehmen).
Die Net-Zero Asset Owner Allianz engagiert sich für eine Transition ihrer Portfolios in Richtung einer Netto-Null-Emission und will damit einen nachhaltigen Beitrag zur Einhaltung des im Pariser Abkommen definierten 1,5°-C-Klimaerwärmungsziel leisten. Sie will nicht nur regulierungskonform, sondern vielmehr jeweils als Botschafter nachhaltigen Investierens in ihrer Branche agieren – mit erheblichem Aufwand für Berichterstattung und Aktionärsengagement. Investiert wird nicht nur in die Messung und Reduktion negativer Umwelteinflüsse des jeweiligen Portfolios, sondern darüber hinaus in Unternehmen, die nachhaltiges Wachstum mit gerechten Arbeitsbedingungen und einer Verringerung sozialer Ungleichheiten verbinden.
Auch der Willis Towers Watson Pensionsfonds (der mit 4,4 Mrd Euro Assets under Management immerhin zu den großen Pensionsfonds in Deutschland zählt) hält diese Ziele für erstrebenswert. Angesichts des Größenunterschieds zur Net-Zero Asset Owner Alliance (deren 42 Mitglieder insgesamt das 150-fache an Vermögenswerten halten) wird jedoch deutlich, dass viele Einrichtungen der bAV in Deutschland sich einen solchen erheblichen Aufwand kaum leisten können und diese Ziele daher eher pragmatisch „im Geleitzug“ dieser Alliance angehen.
1 IPE, Susanna Rust, „’ESG not a priority’ says German pension fund association”, 23.03.2016
2 Asscompact, Ute Thoma, „Betriebliche Altersversorgung: Grün macht den Unterschied“, 7. Juni 2021