Zunächst ist erwähnenswert, dass es zwar viele Bereiche mit allgemeinem Konsens gibt, aber auch Bereiche, in denen verschiedene Investoren deutlich unterschiedliche – manchmal sogar widersprüchliche – Perspektiven haben. Dies bezieht sich vor allem auf die folgenden Themenbereiche:
Diese unterschiedlichen Ansichten unterstreichen, wie wichtig es ist, dass Unternehmen die spezifischen Präferenzen ihrer jeweiligen Investoren kennen und bei wichtigen Entscheidungen oder Änderungen in der Vorstandsvergütung rechtzeitig mit ihnen in Kontakt treten und gegebenenfalls in die Diskussion gehen.
Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass Unternehmen angesichts der derzeit hohen Inflation Zurückhaltung in der Anpassung von Vorstandsgehältern üben und sich stattdessen auf die breitere Belegschaft konzentrieren sollten – insbesondere für die am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmer, die am stärksten von steigenden Lebenshaltungskosten betroffen sind. Viele der Investoren, mit denen wir gesprochen haben, nannten dies als die Schlüsselperspektive, aus der sie Unternehmen in der bevorstehenden Hauptversammlungssaison betrachten würden. Nicht nur in Großbritannien, wo im Vergütungsbericht bereits erörtert werden muss, wie die Vergütungsentscheidungen auf der Top-Ebene im Einklang mit den Vergütungsmaßnahmen für die breitere Belegschaft stehen, auch im restlichen Europa erwarten Investoren, dass hier entsprechende Erläuterungen offengelegt werden, um die Entscheidungen besser einordnen zu können.
In Bezug auf Gehaltserhöhungen hat ISS seine Abstimmungsrichtlinien für Großbritannien und Irland geändert, um zu betonen, dass die Anpassungen auf Vorstandsebene idealerweise niedriger sein sollten als für die breitere Belegschaft. Viele der Investoren, mit denen wir gesprochen haben, stimmen dieser Position zu, wobei auch die Ansicht geäußert wurde, dass, solange der Anstieg auf Vorstandsebene nicht über dem Durchschnitt der Belegschaft läge, dies ausreichend zurückhaltend sei.
Eine Reihe von Investoren gab an, dass sie die große Herausforderung verstehen, vor der Unternehmen bei der Festlegung von Zielen angesichts des unsicheren makroökonomischen Umfelds stehen. Sie verstehen, wenn die Unternehmen im Vergleich zum Vorjahr niedrigere Ziele oder breitere Zielerreichungskorridore festlegen würden, solange dies klar begründet offengelegt würde und mit dem definierten Verfahren zur Festlegung der Ziele einhergehe. Allerdings könne die finale Entscheidung von Fall zu Fall unterschiedlich enden – da die Unternehmen unterschiedlich von den diversen Einflussfaktoren betroffen sind. Im Allgemeinen würde jedoch eine härtere Linie gegenüber Unternehmen eingenommen, die bei der Festlegung der Auszahlungshöhen der variablen Vergütung einen Ermessensspielraum nach oben in Erwägung ziehen werden. Ein solcher Ermessensspielraum sei nur dann akzeptabel, wenn dieser sehr überzeugend begründet würde. Die Auswirkungen des allgemeinen Wirtschaftsklimas oder die Lage in der Ukraine wären nicht per se ein ausreichender Grund für eine solche Diskretion.
Auch der Umgang mit Auszahlungshöhen aus Anfang 2020 zugeteilten Long-Term Incentive Plänen zu – aufgrund der ersten Auswirkungen von COVID-19 – niedrigen Aktienkursen wurde angesprochen. Sollte die zwischenzeitliche Aktienkursentwicklung gegebenenfalls zu unerwarteten Gewinnen („windfall profits“) führen, erwarten die Investoren eine klare Erläuterung und unter Umständen sogar eine Reduktion der Auszahlungshöhe. Die Investoren haben keine gemeinsame Meinung über den angemessenen Umfang einer solchen Anpassung, sondern überließen dies der Beurteilung durch das Unternehmen selbst und ermutigen zu einer klaren Offenlegung der Gründe für die getroffenen Entscheidungen.
Alle Investoren, mit denen wir gesprochen haben, stimmten zu, dass die Frage nach der Verankerung von ESG-Kriterien, insbesondere mit Fokus auf klimarelevante Ziele, in die Incentive-Pläne für Vorstände immer noch eines der Kernthemen ist. Dennoch gibt es hier unterschiedlichste Meinungen. Das Spektrum reicht von einem Investor, der davon absehen würde in ein Unternehmen zu investieren, das keinen Fokus auf die Reduktion von CO2-Emissionen und entsprechende Ziele daher nicht in der Vorstandsvergütung verankert, bis hin zu einem anderen Investor, der sich zynisch über potenzielles „Greenwashing“ und die damit einhergehende Sanierung von Gehaltspaketen für Führungskräfte äußert.
Die Investoren schreiben nicht vor, welche ESG-Kriterien genau zu verwenden sind oder ob sie in Short- oder Long-Term-Incentives einbezogen werden sollen. Nur einige sprechen sich explizit für eine Implementierung im Long-Term Incentive aus oder planen dies zukünftig zu tun. Die meisten sehen es als Aufgabe der Unternehmen zu entscheiden, welches der Instrumente dafür am besten geeignet ist. Es wird jedoch weiterhin erwartet, dass die Ziele konsequent definiert, quantifizierbar, messbar und eng an der übergreifenden Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens ausgerichtet sind. Die Offenlegung sollte verständlich erklären, warum die verwendeten Kriterien für das Unternehmen wesentlich sind.
Es gab eine Reihe von verschiedenen Ansichten über die angemessene Gewichtung von ESG-Kriterien, wobei Werte zwischen 10 Prozent und 30 Prozent genannt wurden. Aber auch an dieser Stelle sind die meisten Investoren der Meinung, dass die Unternehmen selbst je nach ihren spezifischen Umständen entscheiden müssen, welche Gewichtung angemessen ist. Einige Investoren sind präskriptiver – zum Beispiel erklärte LGIM in seinen kürzlich aktualisierten „UK Principles of Executive Pay“, dass Unternehmen in den relevantesten Sektoren eine Gewichtung von mindestens 20 Prozent in ihren LTI-Plan für eine klimabezogene Kennzahl in Einklang mit dem erklärten Ziel zu einer „Scope 1-3 Net Zero“-Position aufnehmen müssen, um ab 2025 die Zustimmung für das Vergütungssystem zu erhalten.
Die Investoren betonten im Allgemeinen die Bedeutung einer klaren Offenlegung. Die verschiedenen Märkte in Europa starten von unterschiedlichen Ausgangspunkten und haben daher mehr oder weniger Raum für Verbesserungen, aber es besteht die allgemeine Erwartung, dass die eingeschlagene Richtung der Offenlegungspraxis transparenter und verständlicher sein sollte. Es besteht Konsens darüber, dass ein Unternehmen, welches den Kontext, die Einzelheiten und die Gründe für die getroffenen Entscheidungen zur Vorstandsvergütung klar darlegt, im Zweifelsfall eher eine Zustimmung in der Hauptversammlung erhalten würde, als wenn dies nicht der Fall wäre.