Frau Losing-Malota, welche geopolitischen Risiken müssen wir 2023 im Blick behalten?
Vorrangig werden wir uns auch dieses Jahr weiterhin mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigen müssen. Leider ist ein Ende der Kriegshandlungen nicht absehbar. Dadurch sind auch wir im übrigen Europa dem Risiko einer weiteren Eskalation ausgesetzt – und wirtschaftlich einer drohenden Rezession.
Gleichzeitig droht bereits jetzt ein massiver Konflikt zwischen China und Taiwan. Die Folgen eines gewalttätigen Konfliktes in der Region hätten noch sehr viel massivere Auswirkungen auf die Weltwirtschaft als der Krieg in der Ukraine. Ganze Lieferketten würden kurzfristig vollkommen zusammenbrechen und China als einer der wichtigsten Absatzmärkte westlicher Unternehmen wegfallen.
Wir sehen außerdem eine Vielzahl politischer Entwicklungen, die generell destabilisierend wirken. In vielen Gesellschaften, auch in starken Demokratien wie unserer, kommt es immer häufiger zu großflächigen Protestbewegungen und Krawallen – sei es für Klimaschutz, gegen die Corona-Politik oder Diskriminierungen und vieles andere mehr. Die Summe und Heftigkeit dieser Unruhen steigen – das müssen Unternehmen ernst nehmen.
Wie erklären Sie sich diese Zunahme an politischen Konflikten?
Ein Grund ist die bessere Information und Vernetzung der Menschen: Soziale Medien haben politischen Aktivismus effektiver gemacht. Sie befähigen Menschen, die sich bisher aus Angst vor Diskriminierung zurückgehalten haben, sich in die Politik einzubringen – so zum Beispiel auch im Iran.
… was ja eine positive Protestbewegung ist.
Wir können uns nicht anmaßen zu beurteilen, welche Proteste berechtigt sind und welche nicht. Aber wir können vorausschauend feststellen, dass wir uns der damit einhergehenden Risiken viel mehr bewusst werden müssen.
Rücken also die Medien manche Krisen nur stärker in unser Bewusstsein? Oder nehmen geopolitische Risiken weltweit wirklich zu?
Die Entwicklungen der vergangenen Jahre lassen keinen Zweifel daran, dass geopolitisch bedingte Risiken zunehmen. Angesichts der Vielzahl an unterschiedlichen, aber auch miteinander verknüpften Entwicklungen muss uns eines klar sein: In Zukunft werden wir häufiger mit politischen Risiken konfrontiert sein als bisher.
Welche Folgen erwachsen daraus für das Risikomanagement von Unternehmen?
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Risikoverantwortliche müssen in Betracht ziehen, dass nicht alle Risiken versichert werden können. Es ist daher für Unternehmen notwendig, in Szenarien zu denken und in erster Linie zu ermitteln, welche Risiken man durch eigene Maßnahmen vermindern kann.”
Olga Losing-Malota
| Head of Broking DACH
Risikoverantwortliche müssen in Betracht ziehen, dass nicht alle Risiken versichert werden können. Es ist daher für Unternehmen notwendig, in Szenarien zu denken und in erster Linie zu ermitteln, welche Risiken man durch eigene Maßnahmen vermindern kann.
Auch durch gezielte Investitionsentscheidungen lassen sich Vorteile erzielen: Wo kann man als Unternehmen zukunftsorientiert investieren? Ist ein neuer Standort in einem unsicheren Land mit niedrigen Löhnen zielführend? Oder lohnt sich nicht eine höhere Investition an einem politisch stabileren Standort? Auch unter ESG-Gesichtspunkten ist manche Investitionsentscheidung in unsicheren Ländern nicht mehr zeitgemäß.
Wie reagiert die Versicherungswirtschaft bislang auf die geopolitische Risikolage?Industrieversicherer geraten zunehmend unter Druck. Sie befinden sich schon seit einigen Jahren in einem harten Marktumfeld. Nun verschärft sich die Lage noch weiter – wir haben parallel anhaltende Krisen und eine ganze Reihe von Ungewissheiten. Schäden durch politische Unruhen sind darüber hinaus auch Kumulrisiken: Bei einem Schadenereignis sind viele Unternehmen betroffen.
Durch die Zunahme von Krisen ist im Rückversicherungsmarkt eine Abnahme von traditionellem und alternativem Kapital zu beobachten, so dass es folgend dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, zu weiteren Prämienanpassungen und einer Reduzierung der Kapazitäten kommen wird. Aufgrund dieses Drucks ist es zunehmend wichtiger, dass Versicherer mit ihren Kunden einen zeitnahen und offenen Dialog führen.
Ist der Kurs der weiteren Verhärtung der Versicherer also vertretbar?Tatsächlich stehen Versicherer in einem starken Spannungsfeld: Einerseits sollen sie wachsen und profitabel bleiben, andererseits erwartet der Markt immer neue Lösungen in einer komplexer werdenden Risikolandschaft. Schon am Beispiel der Cyber-Versicherung hat sich gezeigt, dass die Auswirkungen vieler Risiken kaum mehr bezifferbar sind.
Ähnlich verhält es sich mit den Folgen des Ukrainekrieges: Wie können wir Engpässe in der Energieversorgung oder Lieferkettenunterbrechungen allein durch Versicherungen abdecken? Das erscheint kaum noch möglich.
Was ist die Lösung?Die Lösung liegt bei den Unternehmen – sie können es selbst in die Hand nehmen. Auch die Politik ist gefragt, Lösungen gegen politische Unsicherheiten zu erarbeiten. Die Versicherungslösung ist nicht mehr das Allheilmittel, um diese Vielfalt der Gefahrenlagen abzuwenden. Da setzen wir als Risikoberater unserer Kunden auch an: In erster Linie helfen wir, geopolitischen Risiken eigens für eine Firma und ihre Standorte zu ermitteln. Daten und Tools erlauben sehr individuelle Analysen. Und mit diesen können wir die Folgen einzelner Risikoszenarien abschätzen.
Aber diese „Folgen“ benötigen am Ende dennoch Versicherungsschutz?Als Risikoberater und Makler kümmern wir uns nicht nur um die Vermittlung eines maßgeschneiderten Versicherungsschutzes. Wir unterstützen zuallererst dabei, entsprechende Präventionsmaßnahmen zu definieren. Hier kennen wir die Anforderungen der Versicherer aus jahrelanger Verhandlungserfahrung. Wir wissen genau, worauf es an diesem oder jenem politisch instabilen Standort ankommt. Oder wir beraten zu Fragen der Umwelthaftpflicht, die unter ESG an Bedeutung gewinnt, aber auch Teil geopolitischer Überlegungen ist.
Für viele Unternehmen sind auch alternative Absicherungslösungen eine Überlegung wert: Wie kann man Risiken zu einem Teil selbst tragen oder aber durch Captives und andere Kapitalmarktlösungen entschärfen? Wir haben hierzu weltweit viel Erfahrung gesammelt, die wir im Sinne unserer Kunden für neue Lösungsansätze nutzen können.
Ist das geopolitische Risiko nur ein Thema für international aufgestellt Konzerne?In puncto Geopolitik stehen alle Unternehmen vor den gleichen Herausforderungen: Lieferketten, Proteste, Vandalismus oder andere Instabilitäten – alle Branchen und Unternehmensgrößen können hier betroffen sein. Ein Konzern kann sich möglicherweise professioneller aufstellen oder im Risikomanagement schneller agieren, weil er mehr finanzielle und personelle Ressourcen dafür hat. Aber auch kleinere Organisationen können sich schützen. Wichtig sind: eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Risiken und die Einbeziehung von politischen ebenso wie ESG-kritischen Überlegungen bei allen Entscheidungen, die im Unternehmen getroffen werden.