Interview mit Barthold Albrecht, Intelligent Artificials, und Franziska Kühnemund, WTW
Herr Albrecht, wie erklären sie sich den Boom der generativen KI im Jahr 2023?
Barthold Albrecht: Die Einführung von ChatGPT Ende 2022 hat einen enormen Schub für die öffentliche Wahrnehmung von künstlicher Intelligenz insgesamt und für die Entwicklung neuer Modelle mit sich gebracht. Jeder kann nun direkt im Konversationsstil Texte oder Bilder erzeugen, und Softwareentwickler können diese leistungsfähigen Systeme nutzen, um völlig neue Anwendungen zu erschaffen.
Dieser Durchbruch kam allerdings nicht über Nacht, sondern ist das Ergebnis einer Entwicklung über die letzten zehn bis zwölf Jahre, in denen insbesondere das sogenannte “Deep Learning”, also das Training von neuronalen Netzen, ungeahnte Erfolge erzielt hat. Neben all den anderen Algorithmen profitieren neuronale Netze besonders stark von der Skalierung: Mehr Daten und größere Modelle beflügeln und bedingen sich hier gegenseitig. ChatGPT etwa hat während seines Trainings mehr als 300 Mrd. Wörter gesehen - diese Datenmengen wären früher nicht verfügbar gewesen und konnten überhaupt erst mit den modernen Hochleistungs-Prozessoren (GPUs) verarbeitet werden.
Dazu eine Anekdote: Anfang 2019 absolvierte ich in Stanford den Kurs “Natural Language Processing with Deep Learning”. Dort hielt der KI-Forscher Ashish Vaswani von Google einen Gastvortrag über das von ihm maßgeblich entwickelte Modell, auf dem heute alle großen Sprachmodelle basieren - den sog. “Transformer”. Wenige Monate zuvor hatte Google selbst einen ersten vortrainierten Transformer vorgestellt, dieser hatte ca. 300 Mio. Parameter - damals eine gigantische Zahl. Schon wenige Wochen danach kündigte OpenAI GPT 2 mit ca. 1,5 Mrd. Parameter an. In dieser Situation wurde Ashish Vaswani von einem Studenten gefragt, ob man den Transformer noch verbessern könnte, z. B. bei Aufgaben, die logisches Schlussfolgern erfordern. Seine Antwort war: “Scale will fix the problem!”. Er sollte Recht behalten: GPT 3 hatte dann bereits ca. 175 Mrd. Parameter und immer größere Modelle haben viele Probleme gelöst.
Frau Kühnemund, wo sehen sie derzeit die Chancen beim Einsatz der KI für die bAV?
Franziska Kühnemund: Die Integration von KI in der bAV bietet viele Chancen und wird nach meiner Einschätzung sukzessive alle Bereiche der bAV, insbesondere der bAV-Administration und Kommunikation, durchdringen und helfen, unsere Kundenservices zu verbessern.
Im Bereich der Member Experience wird der verstärkte Einsatz von Chatbots und virtuellen Assistenten zur Beantwortung von Fragen und die Bereitstellung von Informationen bis hin zu individuellen Empfehlungen die bAV-Kommunikation weiter digitalisieren. Die Anwendungsbereiche ziehen sich durch alle Kommunikationskanäle zu Anwärtern, Leistungsbeziehenden und Unternehmensfunktionen, von Post, E-Mail, Telefonie bis hin zu Online-Ticketing-Systemen. Die Annäherung an die Kommunikationsformen, wie wir sie aus dem BtoC-Bereich gewohnt sind: schnell, digital und personalisiert, wird durch den Einsatz der KI viel besser gelingen.
Darüber hinaus kann KI bei der Verwaltung durch die Analyse großer Datenmengen Fehler und Unregelmäßigkeiten frühzeitig erkennen und aufzeigen, was die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Verwaltung verbessern wird. Zusätzlich erwarte ich, dass KI uns auch bei der Einhaltung von Compliance-Vorschriften unterstützen kann, indem Daten analysiert und auf potenzielle Risiken hingewiesen wird. KI wird uns helfen, unsere sensiblen Daten noch besser zu schützen, indem sie Sicherheitslücken erkennt und präventive Maßnahmen ergreift, um Datenschutzverletzungen zu verhindern.
Vielversprechend ist KI auch für Pension Analytics. KI wird eingesetzt, um die Analyse und Verarbeitung großer Datenmengen zu automatisieren und präzisere Erkenntnisse zu gewinnen, um beispielsweise zukünftige Entwicklungen in Bezug auf Rentenverpflichtungen und das Verhalten von Teilnehmenden vorherzusagen, was eine bessere Planung für Unternehmen ermöglicht.
Wo sind die neuen Entwicklungen der KI?
Barthold Albrecht: Zwei grundlegende Trends begünstigen sich derzeit gegenseitig. Zum einen die wachsende Zahl immer besserer “Foundation Models” - so nennt man neuronale Netze, meist in der Transformer-Ausprägung, die mit sehr großen Datensätzen (Texten, Bildern, Software Codes oder auch DNA-Sequenzen) trainiert werden - zunehmend auch multimodal, so dass man GPT 4 eben auch über ein Foto befragen kann. Und zum anderen die Verwendung dieser Foundation Models in weiterführenden Anwendungen, wo sie für spezifische Aufgaben eingesetzt und angepasst, oftmals auch mit proprietären Daten nachtrainiert werden.
Aus dieser Verbindung ergeben sich enorme Möglichkeiten, da ich die Fähigkeiten der Foundation Models auf meine Bedürfnisse und meine Daten übertragen kann. Meine individuelle KI kann dann z. B. im Stil von ChatGPT von mir definierte Informationen kommunizieren oder nach meinen Vorgaben erkennen, ob Kundenanfragen evtl. sensitiv sind oder ob mein Produkt einen Mangel gemäß meiner Spezifikation aufweist. Der Clou an diesem sogenannten “Transfer Learning” ist, dass oft schon eine geringe Menge an proprietären Daten ausreicht, um exzellente Ergebnisse zu erzielen, da das tiefe Text- oder Bildverständnis der Foundation Models für den individuellen Anwendungsfall genutzt wird.
Nach einer Studie von McKinsey (McKinsey „The economic potential of generative AI: The next productivity frontier”, 14 Juni 2023) wird KI vor allem in der Kundenbetreuung und -gewinnung eingesetzt, aber auch bei der Personalisierung von Produkten oder Produktempfehlungen sowie bei der Verbesserung bestehender oder Schaffung ganz neuer Produkte. Hinter diesen Schlagworten verbergen sich manchmal Lösungen “von der Stange”, meist aber auf den Kunden zugeschnittene KI-Anwendungen. Der Fantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt.
Welche Erfahrungen haben sie mit KI im bAV-Bereich gemacht?
Franziska Kühnemund: Wir sind aktiv dabei, unsere Services mithilfe von KI neu- oder umzugestalten. Je intensiver wir uns mit diesem Thema beschäftigen, desto mehr Prozesse und Arbeitsbereiche tun sich auf, die wir durch den Einsatz von KI verbessern können. Gerne gebe ich einen Blick auf die Werkbank: Für unsere Administrationsservices nutzen wir bereits KI bei der Erkennung und Kategorisierung von Schriftstücken. Hierbei werden Dokumente im Rahmen des Scanprozesses ausgelesen, inhaltlich unterschiedlichen Auftragsarten zugeordnet und die ausgelesenen Daten zur systemseitigen Weiterverarbeitung bereitgestellt. Ziel ist es, durch das „Durchprozessieren“ der sehr heterogen vorliegenden Informationen von Anwärtern und Leitungsbeziehenden effizient qualitativ hochwertige Ergebnisse zu erzeugen. So können beispielsweise Adress- und Bankverbindungsänderung, Sterbefall- und Hinterbliebenendaten, die in der Regel einer schnellen Bearbeitung bedürfen, mit nur wenigen Kontrollchecks direkt für die Bearbeitung von Auszahlungen berücksichtigt werden. Eine solche prozessuale Beschleunigung trägt dazu bei, dass weniger Nachfragen zu den Einzelfällen entstehen und damit der Kundenservice wesentlich verbessert werden kann.
Deutschland spürt den demografischen Wandel in allen Bereichen: die geburtenstarken Jahrgänge (die sog. Baby-Boomer-Generationen) gehen in den Ruhestand. In der bAV-Administration merken wir das daran, dass das Anfragevolumen auf allen Kommunikationskanälen steigt. Insofern treiben wir auch die Automatisierung in den digitalen Kommunikationskanälen voran. So sind wir beispielsweise dabei, die Bearbeitung von E-Mails oder Online-Ticketing durch den Einsatz eines „Conversational Agent" zu automatisieren. Technisch wird dies durch den Aufbau spezieller Wissensdatenbanken in Kombination mit einem generativen Sprachmodell unterstützt und liefert uns bereits vielversprechende Antworten. Dieses technische Modell ist auf beliebige Bereiche des Wissensmanagements in der bAV-Administration und Kommunikation ausdehnbar und stellt für uns eine vielversprechende Technologie dar, von der wir im Kundenservice profitieren werden.
Darüber hinaus können wir durch den Einsatz von KI-basierten Assistenten wie z. B. Copilot bei alltäglichen Aufgaben, wie Übersetzungen und der Erstellung von Vorlagen, profitieren.
Schließlich haben wir mit dem Aufbau eines Data Warehouses die Grundlagen geschaffen, Datenanalyse und -visualisierung durch die Verwendung von KI-Algorithmen zu ermöglichen und damit Einblicke in Trends, Muster sowie Vorhersagen und Prognosen für unsere Kunden zu erhalten. Auch hier profitieren wir von unserer globalen Organisation mit unseren internationalen Experten, die eine schnelle und effiziente Anpassung der international entwickelten Lösung an die deutschen bAV-Bedürfnisse ermöglichen.
Wie können Bedenken hinsichtlich der Einführung neuer Technologien begegnet werden?
Franziska Kühnemund: Die Einführung neuer Technologien, auch im Bereich der KI, erfordert eine besondere Aufmerksamkeit auf Datenschutz, Sicherheit, Zuverlässigkeit und Fairness. Dies gilt insbesondere dann, wenn wir KI zur Verarbeitung personenbezogener Daten einsetzen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass unsere Datenschutzrichtlinien sicherstellen, dass diese Daten geschützt sind und gemäß den geltenden Datenschutzbestimmungen verwendet werden.
IT-Systeme, wie auch KI-Systeme, müssen vor Angriffen, Manipulationen und Fehlfunktionen geschützt werden. Daher müssen Sicherheitsmaßnahmen wie Verschlüsselung, Zugriffskontrollen und regelmäßige Sicherheitsaudits implementiert werden, um die Integrität der KI-Systeme zu gewährleisten. Unsere Organisation steht regelmäßig Audits durch Kunden und Aufsichtsbehörden wie der BaFin gegenüber. Wir unterstützen diese Informationssicherheitsanforderungen beispielsweise durch die ISO 27001 Zertifizierung. Darüber hinaus hat die Europäische Union mit dem Digital Operational Resilience Act (DORA) eine Regulierung eingeführt, die sich mit Cybersicherheit, IKT-Risiken und digitaler operationeller Resilienz befasst. Dadurch entstehen auch Sicherheitsanforderungen an unsere Kundenservices, denen wir entsprechen müssen. Diese Anforderungen stellen einen sicheren Rahmen für die Nutzung neuer Technologien dar.
Darüber hinaus ist Zuverlässigkeit ein Schlüsselfaktor für den Erfolg von KI-Systemen. Durch gründliche Tests, Validierung und regelmäßige Wartung und Aktualisierung kann die Zuverlässigkeit von KI-Systemen verbessert werden, um unerwartete Ausfälle oder Fehlfunktionen zu minimieren.
Insgesamt ist es wichtig, bei der Implementierung von KI-Technologien einen ganzheitlichen Ansatz mit entsprechenden Risikomanagementsystemen zu verfolgen, die Datenschutz, Sicherheit, Zuverlässigkeit, Fairness und den Grundsatz des "Human in the Loop" berücksichtigen. Dies trägt dazu bei, das Vertrauen in KI-Systeme zu stärken und ihre Potenziale für unsere Kundenservices auszuschöpfen.
Barthold Albrecht: Den Ausführungen von Frau Kühnemund stimme ich vollkommen zu. Sie beschreiben wesentliche Teile dessen, was unter dem Begriff “Responsible AI” behandelt wird. Die gute Nachricht ist, dass hier mittlerweile in Wissenschaft und Praxis ein klares Verständnis und weitreichende Möglichkeiten erarbeitet wurden.
Im Hinblick auf Datenschutz, Kontrolle und Sicherheit kann man z. B. für den jeweiligen Anwendungsfall Lösungen entwickeln, welche die individuellen Anforderungen des Kunden erfüllen - von komplett lokalen über teilweise Cloud-basierte Implementierungen bis hin zu “AI as a Service”. Aber auch das bereits angesprochene Problem der “Halluzination” von großen Sprachmodellen lässt sich stark reduzieren, etwa durch die Kopplung an Wissensdatenbanken und Knowledge Graphs oder durch die Kombination mit weiteren KI-Modulen, die Ergebnisse auf Qualität oder Plausibilität hin bewerten, bevor sie ausgegeben werden.
Wichtig ist mir auch, dass KI im Unternehmen selbst nicht als Black Box genutzt und erfahren wird. Das volle Potenzial realisiert man dann, wenn die Mitarbeitenden aus den Fachbereichen schon während der Konzeptionierung und Entwicklung sowie im laufenden Betrieb beim Monitoring einbezogen werden, denn sie wissen schließlich - ungeachtet aller Performance-Messungen - am besten, ob und wie gut die KI wirklich funktioniert.
Was sind die Erwartungen an die zukünftige Entwicklung der KI?
Barthold Albrecht: Es bleibt spannend und teilweise atemberaubend! Die Fähigkeit neuronaler Netze, aus Daten Strukturen und Zusammenhänge zu lernen, die wir Menschen so nicht erkennen, wird für weitere spektakuläre Durchbrüche sorgen - wie vor wenigen Wochen mit Alpha-Fold 3 von Deepmind, das nun neben der Struktur von Molekülen auch deren Interaktion untereinander vorhersagen kann.
AlphaFold basiert auch auf dem genannten Transformer-Modell, und viele neuartige Fähigkeiten werden einfach dadurch entstehen, dass wir mit neuen Datensätzen neue Foundation Models trainieren. Die Möglichkeiten, die sich daraus für Anwendungen in der Medizin, der Wissenschaft allgemein und natürlich in der Wirtschaft ergeben, sind immens.
Franziska Kühnemund: Meine Erwartung ist, dass sich KI auch in der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland durchsetzen wird, da sie eine Vielzahl von Vorteilen bietet. Nach meiner Einschätzung ist eine schrittweise Integration von KI-Lösungen in die bAV-Service-Landschaft am erfolgversprechendsten, um die notwendige Akzeptanz bei allen Beteiligten zu erreichen. Dieses schrittweise Vorgehen ist auch notwendig, um Chancen und Risiken der relativ neuen Technologie abwägen zu können.
Insgesamt bieten KI und bAV eine vielversprechende Synergie, die durch den geschickten Einsatz der Technologien zu einer Win-Win-Situation für Unternehmen und ihre Mitarbeitenden führen kann. Die richtige Balance zwischen Innovation und Risikomanagement ist dabei entscheidend, um die positiven Effekte von KI in der bAV optimal zu nutzen.
Dr. Barthold Albrecht ist Founder und CEO bei Intelligent Artificials. Intelligent Artifical berät Unternehmen bei der Identifizierung und Implementierung individueller KI-Use Cases und entwickelt entsprechende KI-Lösungen.
Dr. Franziska Kühnemund ist Senior Director und Mitglied der Geschäftsleitung des Bereichs Outsourcing bei WTW in Deutschland und dort verantwortlich für den Bereich Software und Design.