Herr Müllerleile, als Geschäftsführer der Metallrente GmbH beteiligen Sie sich an der bAV-Diskussion im EU-Kontext. Mit Blick auf die EU denken viele zuerst an eine überbordende Regulatorik.
Hansjörg Müllerleile: Die EU bringt nicht nur einen in der Tat hohen bürokratischen Aufwand mit sich. Wir sollten sie auch als Gestaltungsraum sehen mit der EU-Kommission als konstruktivem Impulsgeber. Nehmen wir die European Pillars of Socials Rights, die 2017 von der EU-Kommission verabschiedet wurden; dazu gehört das Ziel, dass in den Mitgliedsstaaten bis 2030 15 Mio. weniger Menschen dem Risiko von Armut oder sozialer Exklusion ausgesetzt sind.
Welche Bedeutung hat dieses recht allgemein definierte Ziel für die Altersversorgung bzw. die bAV?
Hansjörg Müllerleile: Die European Pillars of Social Rights wurden mit 20 Prinzipien konkretisiert. Bei dem Prinzip 15 geht es um Alterseinkünfte und Ruhegehälter – der Wortlaut: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Selbstständige im Ruhestand haben das Recht auf ein Ruhegehalt, das ihren Beiträgen entspricht und ein angemessenes Einkommen sicherstellt. Frauen und Männer sind gleichberechtigt beim Erwerb von Ruhegehaltsansprüchen. Jeder Mensch im Alter hat das Recht auf Mittel, die ein würdevolles Leben sicherstellen.“ (siehe Die Europäische Säule sozialer Rechte in 20 Grundsätzen) Die bAV steht hier zwar nicht im Fokus, sie wird aber im Sinne übergeordneter Ziele gewissermaßen mitgeregelt.
Wie steht es denn generell um die Rentensysteme der Mitgliedsstaaten?
Hansjörg Müllerleile: Dies untersucht die EU-Kommission alle drei Jahre mit ihrem Pension Adequacy Report. Der aktuelle Report zeigt: Einerseits steigen die relative Einkommensarmut unter Rentnern und das individuelle Risiko, von Altersarmut betroffen zu sein. Andererseits haben sich die Rentensysteme trotz Pandemie, hoher Inflation, geopolitischer Umwälzungen und demographischem Wandel als resilient erwiesen; sie schützen zumindest vor extremen sozialen Notlagen.
Wo liegen jetzt die zentralen Herausforderungen?
Hansjörg Müllerleile: Herausforderungen gibt es eine Menge – zum Beispiel in der Anwartschafts- und der Rentenphase das Risiko hoher Gesundheits- und Pflegekosten sowie finanzielle Lücken durch Berufsunfähigkeit, Unterbrechungen der Erwerbsbiographie, die Altersvorsorge der Selbständigen und ein Gender Pension Gap, der in einigen Mitgliedsländern sehr hoch ist. Es gibt also viel zu tun.
Womit befasst sich die neue EU-Kommission vor allem in diesem Kontext?
Hansjörg Müllerleile: Zentral ist etwa die Diskussion um die Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion. Dabei sollen auch Investmenthürden abgebaut werden, mit Vorteilen für Einrichtungen der bAV, Arbeitgeber und Beschäftigte. Allerdings geht es der EU-Kommission in erster Linie um allgemeine finanzpolitische Vorhaben wie die Finanzierung der Transformation. Als Investoren mit einem weiten Anlagehorizont spielen Einrichtungen der bAV und Arbeitgeber hier eine wichtige Rolle. Das sozialpolitische Ziel muss bei uns jedoch immer im Vordergrund stehen.
Zu diesem sozialpolitischen Ziel gehört auch eine weitere Verbreitung der bAV.
Hansjörg Müllerleile: Hier läuft die Diskussion auf EU-Ebene ganz klar in Richtung obligatorischer Instrumente im Sinne eines Auto-Enrolments. Dazu sollen auch die Sozialpartner mit ins Boot geholt werden. Ergebnis wäre sicher ein höherer Verbreitungsgrad, jedoch auch die Gefahr, dass die begrenzten Mittel nur umallokiert würden; doch entsprechende verteilungspolitische Fragen könnten nur auf Ebene der Mitgliedstaaten sinnvoll diskutiert werden.
Würden nicht auch EU-weite Standardprodukte Schwung in die Verbreitung der bAV bringen?
Hansjörg Müllerleile: Von Schwung kann mit Blick auf solche Produkte zumindest aktuell keine Rede sein. Nehmen wir das Paneuropean Pension Product, PEPP. Stand Juli 2024 gibt es nur einen einzigen Anbieter in vier Mitgliedsstaaten mit aktuell rund 7.500 Verträgen. Die Crux: Es gibt keine klar definierte und ausreichend umfassende Zielgruppe für europäische Standardrodukte wie das PEPP. Wer engagiert sich schon während seines Berufslebens in unterschiedlichen EU-Ländern?
Würde vielleicht mehr Effizienz durch Digitalisierung weiterhelfen?
Hansjörg Müllerleile: Dieses Thema wird ebenfalls intensiv diskutiert. Im Kern geht es darum, mit unterschiedlichen Instrumenten europaweit umfassende Daten zu erheben, zu bewerten und relevanten Akteuren transparent verfügbar zu machen. Bei allem Für und Wider: Bessere Daten führen nicht automatisch zu einer besseren Versorgung und einer weiteren Verbreitung. Anders gesagt: Digitalisierung braucht Kundennutzen und nicht einfach mehr Reporting.
Wir bewegen uns insgesamt also auf einem weiten Feld. Eint dabei unter dem Strich die Mitgliedsstaaten mehr als sie trennt?
Hansjörg Müllerleile: Die rentenpolitischen Systeme der Mitgliedsstaaten haben sich historisch unterschiedlich entwickelt, dies gilt gerade auch für die bAV. Jeder Mitgliedsstaat hat den sozialpolitischen Kompromiss zwischen gesellschaftlicher und individueller Verantwortung individuell austariert. Die eine Best Practice für alle kann es kaum geben. Deshalb wird mehr Regulierung auch nicht zu einer besseren Altersversorgung führen. Wir sollten vor allem darauf achten, dass die bAV nicht zum Spielball auf einem finanzpolitischen Feld wird.
Welche Rolle sehen Sie in Zukunft für die EU?
Hansjörg Müllerleile: Sie muss in erster Linie die Mitgliedsstaaten dabei unterstützen, bestehende Rentenlücken zu schließen, neue Lücken zu vermeiden und ein gesichertes und angemessenes Alterseinkommen für alle zu gewährleisten.
Vielen Dank für das Gespräch!