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Artikel | Risk Perspectives

Das Glas kann auch wieder voll sein

29. Juni 2022

Die weltwirtschaftliche Lage sieht nicht gerade rosig aus. Doch mit mehr politischem Mut und Innovationskraft können wir aus der Krise herauswachsen. Ein Dialog zwischen Monika Behrens, WTW, und Katharina Utermöhl, Allianz SE.
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Monika Behrens: Frau Utermöhl, als Volkswirtin sind Sie ja recht krisenerfahren.

Katharina Utermöhl: Das ist wohl wahr! Als ich anfing, hatten wir die große Finanzkrise, dann ging es weiter mit der Eurokrise, dem Brexit, einer Industrierezession in Deutschland und Corona; und heute der Ukraine-Krieg.

Monika Behrens: Wie geht es jetzt mit der Weltwirtschaft weiter?

Katharina Utermöhl: Kurzfristig ist das Glas auf jeden Fall halb leer; wir haben kräftige Abschläge beim Wirtschaftswachstum, noch kräftigere Aufschläge bei der Inflation, und aktuell geht es ja vor allem um Krisenbewältigung und Schadenbegrenzung. Mittelfristig wird es nicht viel besser; nächstes Jahr werden wir keine konjunkturelle Aufholjagd sehen, sondern lediglich ein gedämpftes Wachstum bei einer relativ hohen Inflation.

Zudem müssen wir mittelfristig sehr viele Themen angehen, neben einer Neusortierung der Geopolitik etwa die Dekarbonisierung und die Digitalisierung – was nicht weniger erfordert als die Transformation von Unternehmen und ganzer Branchen. Wenn wir diese Herausforderungen annehmen und meistern, auf Innovationen vertrauen und dafür die Rahmenbedingungen schaffen, werden wir auch wieder mehr Wachstum bei einer gemäßigten Inflation haben.

Monika Behrens: Bei allem kommt es ja auch darauf an, dass wir weltweit eng zusammenarbeiten. Gilt hier noch die alte Überzeugung „Wandel durch Handel“?

Katharina Utermöhl: Mit Blick auf Russland, aber auch auf  andere Staaten, ganz klar nein. Und wir können auch nicht generell sagen „Wandel nur durch Handel“. Nach dem Motto, die Unternehmen werden schon das Richtige tun. Dieser Prozess muss durch die Politik und die Diplomatie viel intensiver begleitet werden. Wir brauchen mehr aktive Wirtschaftspolitik, um unsere Interessen global durchzusetzen.

Monika Behrens: Mit der Globalisierung scheint es aktuell jedoch nicht so gut auszusehen.

Katharina Utermöhl: Ich denke, wir gehen jetzt in eine neue Phase der Globalisierung, die mehr von Werten bzw. Grundüberzeugungen geleitet wird. Das heißt nicht, dass wir mit Staaten, die unsere Werte und Überzeugungen nicht teilen, keinen Handel mehr treiben werden. Wir sollten bei solchen Akteuren jedoch vorsichtiger werden, weil sie für uns unberechenbar sind und unbequem werden können. Es geht eher darum, entsprechende riskante Abhängigkeiten zu reduzieren, indem man nicht alles auf eine Karte setzt und sich wie bei China ein Klumpenrisiko einhandelt. Das Motto lautet Differenzierung und Flexibilisierung.

Monika Behrens: Können wir uns eine Abkehr von China überhaupt leisten? Viele Unternehmen verdienen hier ja nach wie vor recht ordentlich.

Katharina Utermöhl: Auf längere Sicht können wir es uns vor allem nicht leisten, unsere wirtschaftlichen Risiken nicht besser zu verteilen und Abhängigkeiten zu reduzieren. Viele Unternehmen haben hier falsch gerechnet, weil sie nicht alle Kosten mit einbezogen haben. Pointiert gesagt: Wir haben die Nachfrage an China abgetreten, die Energieversorgung an Russland und die Sicherheit an die USA. Viele verdeckte Kosten, die wir nicht einkalkuliert haben, schlagen jetzt zu Buche.

Monika Behrens: Sehen Sie nicht auch schon die Tendenz zu einem Home Sourcing deutscher Unternehmen, also auf eine Konzentration auf europäische Märkte und Wertschöpfungsnetze?

Katharina Utermöhl: Unsere Umfragen zeigen, dass sich viele Unternehmen das zumindest sehr genau anschauen und ihre Möglichkeiten ausloten. Schließlich haben sie bereits vielfältige wirtschaftliche Beziehungen, die sie gut weiter ausbauen können.

Monika Behrens: Würde ein Home oder Nearshoring europäischer Unternehmen nicht die Inflation noch weiter anheizen?

Katharina Utermöhl: Wenn wir es schaffen, durch Automatisierung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz noch produktiver und effizienter zu werden, könnten wir die Preise durchaus stabil halten und auch international wettbewerbsfähig bleiben. Dafür müssen wir in Europa jedoch noch deutlich mehr tun.

Monika Behrens: Neben Themen wie Globalisierung, Lieferketten und Digitalisierung haben wir vor allem das Thema Nachhaltigkeit auf der Agenda. Auch hier wissen wir, wir müssen eine Menge tun. Aber auch hier stellt sich die Frage: Können wir uns die entsprechende Transformation überhaupt leisten?

Katharina Utermöhl: Und auch hier lautet die Antwort: Wir können es uns nicht leisten, sie nicht zügig und konsequent auf den Weg zu bringen. Eine ungebremste Erderwärmung würde zu immens hohen Risiken für die Weltbevölkerung und die Weltwirtschaft führen. 

Monika Behrens: Das Thema Nachhaltigkeit spielt ja auch beim Lieferkettengesetz eine Rolle; dabei geht es neben der Ökologie auch um soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Sehen Sie das positiv?

Katharina Utermöhl: Die Intention ist gut, aber der Weg ist falsch. Hier wird von den Unternehmen etwas erwartet, das sie nicht leisten können. Wandel durch Handel funktioniert auch hier nicht. Gleichzeitig ergeben sich deutliche Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen. Hier sehe ich ganz klar wieder die Politik im Fahrersitz: Deutschland muss sich stärker auf der Weltbühne einbringen und geeignete Standards politisch durchsetzen.

Monika Behrens: Auch bei einem anderen Thema ist die Politik gefragt – bei der Inflation. Wie sehen Sie die Lage?

Katharina Utermöhl: Hohe Energiepreise, verkürzte Lieferketten und Dekarbonisierung tragen dazu bei, dass wir mittelfristig auf jeden Fall eine höhere Inflation haben werden. Insgesamt bleibt die Lage für deutsche Unternehmen also recht anspruchsvoll. Ich bleibe aber zuversichtlich, dass wir aus dieser kritischen Gemengelage wieder gestärkt herauskommen. Wir haben einfach sehr viel Potenzial, das in den letzten 20 Jahren nicht produktiv gemacht wurde. Und wir werden davon überrascht sein, was wir alles leisten können, wenn wir mutig und innovativ nach vorn gehen.

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